General Public

Grenzen Ergänzen

12 - 27 Nov 2011

GRENZEN ERGÄNZEN
12. – 27. November 2011

Karl H. Dautermann, Roswitha Dönnges, Ulrike Feser, Gerhard W. Feuchter, Kris Heide, Frido Hohberger, Mark Krause, Dieter Loechle

M2O goes Berlin

Im Rahmen eines Projektraumtausches mit General Public Berlin zeigen acht Künstler/innen, die im M2O Tübingen mit Einzelausstellungen vertreten waren, Arbeiten zum Thema Abgrenzung, Ausgrenzung und Entgrenzung. Inspiriert wurde das Thema durch Friedrich Hölderlin, der in Tübingen studierte, aber vor allem von 1807 bis 1843 im sogenannten Hölderlinturm - seelisch krank - gepflegt wurde: Ein Mensch, ein Künstler, der extremen Grenzerfahrungen in seinem Leben ausgesetzt war, diese aber auch als kreativen Ausgangspunkt nutzte.

Die großformatigen Kohlezeichnungen von Frido Hohberger zeigen HÖLDERLIN und DIOTIMA, die letztere eine mythische Figur, eingegangen in Hölderlins Hyperion, inspiriert durch seine große Liebe zu Susette Gontard. Die stark räumliche Bildsprache Hohbergers entwickelt sich aus der geschwärzten Fläche durch Wegnehmen und Hinzufügen, ein Arbeitsprozess, der im Zeichnerischen zugleich das Bildhauerische einschließt. Die Zeichnungen sind Teil einer umfassenden Werkgruppe, die auch Pflanzen- und Tierdarstellungen beinhaltet.

Dieter Loechles Installation befasst sich mit dem Begriffspaar Eingrenzen und Überfließen. Ausgehend vom Werk William Blakes, der existenzielle Zustände in elementare Worte und Bilder fasste, formuliert Loechle mit Gummischnitten und Glaszylindern sinnfällige, zeitgemäße Interpretationen der Ideenwelt des Malerpoeten. THE CISTERN CONTAINS THE FOUNTAIN OVERFLOWS ist Teil seines Projektes THE SCATTERED BODY, das als Gesamtkunstwerk konzipiert ist.

Karl H. Dautermann zeichnet rhythmische Strukturen, die Erinnerung an Landschaft, an Baumkronen hervorrufen. Sie bleiben aber abstrakt. Die feinen, verdichteten Strichgefüge des TRIPTYCHONS verlieren sich in aufgelösten Randzonen. Sie zeigen die Unendlichkeit von Grenzen, wie sie durch die Chaos-Forschung der 80er Jahre in der sogenannten Mandelbrod-Menge beschrieben wurde. Diese Entgrenzung wird kontrapunktisch durch eine kleine, ausformulierte Landschaft ergänzt.

Ulrike Feser zeigt in ihren fotografischen Arbeiten aus der Serie DOUBLE BIND Grenzposten in der Wüste Sinai. Allein die Weite der Landschaft lässt die bewaffneten Grenzposten winzig in Bedeutungslosigkeit fast verschwinden. Grenze wird inszeniert. Touristen soll eine Sicherheit vermittelt werden, die es gar nicht gibt. Die Scheinhaftigkeit, Willkür und Verletzbarkeit von politischen Grenzen kann kaum deutlicher werden als auf diesen Bildern endloser Landschaft.

Mark Krause befasst sich mit einer politischen Grenze, und zwar mit der ehemaligen Grenze zwischen DDR und BRD. Seinen großformatigen Gemälden mit japanischen Figuren liegen Shunga, erotische Farbholzschnitte des 18. und 19. Jahrhunderts zugrunde, größtenteils einem sogenannten Kopfkissenbuch mit dem Titel UTAMARO entnommen. Das Leproello wurde in dieser Form kurz vorm Mauerfall aufgelegt, gedacht als pikante Jahresgabe für die politische Führung der DDR, die es aber nicht mehr in den Händen halten sollte. THE PAINTER'S PILLOW BOOK entlarvt ein ungelebtes Stück Zeitgeschichte, überrollt von den Ereignissen 1989, spürt einem ästhetischen Ideal japanischer Kultur nach und findet zu einem eigenen malerischen Ausdruck.

Gerhard Feuchter stellt in seinen Papiergussarbeiten den äußersten Punkt dar, der begehbar, erfahrbar ist. Kurz vorm Sturz werden Dinge, Figuren, Formen abgefangen, die sich an den äußersten Punkt einer extremen, architektonischen Form gewagt haben. Erleichtert bezieht der Betrachter die Bildgrenze ein. Auch sie verhindert den Sturz. Obwohl Feuchter sehr zurückgenommen mit abstrahierten Formen und Zeichen arbeitet, spricht er unmittelbar Gefühle an. Textur und Farbigkeit des Materials unterstreichen die sinnliche Qualität seiner Bildsprache, die an Piktogramme erinnert. Ausgangspunkt für Feuchter war eine literarische Vorgabe: Le tout dans l'audace c'est de savoir jusqu'où on peut aller trop loin von Jean Cocteau (1918).

Roswitha Dönnges zeigt in ihrer Installation ebenfalls das Extreme. Ihre Textilplastiken SCHREI und ANGST formulieren außerordentliche, psychische Zustände, ihre liegende Figur KÖRPER assoziiert die Begegnung mit dem Tod, mit den Opfern des Holocaust. Dem gegenüber steht eine ihrer ALLTAGSIKONEN, die in dieser Arbeit stellvertretend für die machtlose, schweigende Kirche im Dritten Reich steht. Grenzen der Erinnerung an ihre Nachkriegs-Kindheit in den 50er Jahren wurden bei der Künstlerin aufgebrochen.

Durch Zeichnen von Gesichtern versuchte Kris Heide während eines sechsmonatigen China-Aufenthalts Einlass in die fremde Kultur zu finden. Ihr Skizzentagebuch mit gezeichneten Köpfen offenbart das Herantasten an das Fremde. Die Porträts sind aber auch Manifeste der persönlichen Entgrenzung, die nötig ist, um jenseits von Sprache eine Kultur verstehen zu können. Shanghais Art-Deco Vergangenheit fließt ebenso ein in die KOPFZEICHNUNGEN wie die Reduktion auf das Schwarz-Weiß und Rot traditioneller chinesischer Malerei. Die Projektion LOST IN RELECTION zeigt Menschen und Architektur im Labyrinth eines ehemaligen Schlachthofes Shanghais.

Kristina Heide
Projektraum M2O-Kunst ist Leben, Tübingen
 

Tags: Jean Cocteau